Arbeitslosigkeit und Gesundheit [Gesundheitsberichterstattung - Themenhefte, Februar 2003]
[Heft 12: Dekubitus] [Heft 14: Gesundheit alleinerziehender Mütter und Väter] [Abstrakt] [Inhaltsverzeichnis]
Heft 13 - Arbeitslosigkeit und Gesundheit
aus der Reihe "Gesundheitsberichterstattung des Bundes"
Autoren: |
Dr. Thomas G. Grobe
Prof. Dr. Friedrich W. Schwartz Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG), Hannover www.iseg.org |
|
|
Redaktion: |
Robert Koch-Institut
Gesundheitsberichterstattung Dr. Cornelia Lange Dr. Thomas Ziese Seestraße 10 13353 Berlin |
|
|
Herausgeber: |
Robert Koch-Institut
(Februar 2003) |
Einleitung
Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit wurden in der wissenschaftlichen Literatur bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben. Das vielleicht bekannteste Beispiel aus dem 20. Jahrhundert dürfte die Publikation »Die Arbeitslosen von Marienthal« sein, die 1933 von der Soziologin Marie Jahoda-Lazarsfeld veröffentlicht wurde 1 . In dieser wie auch in vielen nachfolgenden Studien finden sich Belege für einen schlechteren Gesundheitszustand bei Arbeitslosen. Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit resultiert dabei nicht nur aus ihren materielle Folgen, sondern auch aus dem Verlust von latenten Funktionen, die der Arbeitstätigkeit zukommen (z.B. durch die Bedeutung der Arbeit für das Selbstwertgefühl und soziale Kontakte). Zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit gibt es folgende, grundlegende Thesen:
- Arbeitslosigkeit führt zu einem erhöhten Krankheitsrisiko (Kausalitätshypothese);
- Krankheit führt zu einem erhöhten Arbeitslosigkeitsrisiko (Selektionshypothese).
Obwohl diese Hypothesen als gegenläufige Standpunkte formuliert sind, dürfte kaum zu bestreiten sein, dass sich beide Möglichkeiten eines ursächlichen Zusammenhanges von Arbeitslosigkeit und Krankheit im Einzelfall belegen lassen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung sollte beide Hypothesen berücksichtigen und versuchen, ihre anteilige Bedeutung für den in der jeweils betrachteten Population gefundenen Zusammenhang näher einzugrenzen. Über eine Diskussion der möglichen Richtung einer Kausalität in der Beziehung von Arbeitslosigkeit und Gesundheit sollte jedoch nicht vergessen werden, dass allein auf Basis der Häufung von gesundheitlichen Problemen bei Arbeitslosen - unabhängig von jedweder Kausalität - den Arbeitslosen gesundheitsfördernde Maßnahmen angeboten werden sollten.
Der nachfolgende Text versucht auf der Basis von aktuellen Daten die gesundheitliche Situation von Arbeitslosen in Deutschland darzustellen sowie Befunde zu den beiden möglichen Ursache- Wirkungs-Beziehungen im Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit zu diskutieren.
Arbeitslosigkeit in Deutschland
Definitionen von Arbeitslosigkeit
Entwicklung der Arbeitslosigkeit seit den 70er
Jahren
Die in den neuen Bundesländern bestehende hohe Arbeitslosigkeit beruht auf anderen Ursachen: In der veralteten Wirtschaftsstruktur der DDR unterblieben notwendige Rationalisierungen und Modernisierungen; aufgrund unproduktiver Arbeitsplätze bestand eine nicht unerhebliche verdeckte Arbeitslosigkeit. Nach der Wende hatten die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der ehemaligen Staatsunternehmen auf dem innerdeutschen und dem internationalen Markt sowie der Ausfall der traditionellen osteuropäischen Märkte einen massiven Produktivitätseinbruch zur Folge. Zudem ist das Arbeitsangebot in den neuen Bundesländern durch das größere Interesse von Frauen an einer Vollzeit-) Erwerbstätigkeit höher als in den alten Bundesländern. Trotz enormer Transferleistungen seit den 90er Jahren gelang es bis heute nicht, die Unterbeschäftigung in den neuen Bundesländern deutlich zu senken.
Im vereinten Deutschland erreichte die Arbeitslosigkeit 1997 mit 4,4 Millionen arbeitslos gemeldeten Personen ihren Höhepunkt. Seither ist in den alten Bundesländern ein Rückgang der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen, während sich in den neuen Bundesländern bislang kein eindeutiger Trend abzeichnet. Die Arbeitslosenquote bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen lag in den neuen Bundesländern im Mai 2001 mit 18,4% mehr als doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern mit 7,9% (Bundesrepublik insgesamt: 9,9%). Für Männer und Frauen zeigten sich zu diesem Zeitpunkt mit 10,0% bzw. 9,8% nahezu identische Quoten.
Durch Überstreichen der Grafik mit der Maus erhalten Sie zusätzliche Informationen.
Durch Klick auf die Grafik mit der linken Maustaste (bzw. Return-Taste bei Fokus auf der Grafik) erhalten Sie eine Tabelle mit den Werten der Grafik.
Langzeitarbeitslosigkeit
Die gesundheitliche Situation von
arbeitslosen Frauen und Männern
Lebensbedingungen
53% der arbeitslosen Männer bezeichnen sich trotz ihrer Arbeitslosigkeit als Hauptverdiener (berufstätige Männer: 82% Hauptverdiener). Demgegenüber geben lediglich 27% der arbeitslosen bzw. 35% der berufstätigen Frauen an, Hauptverdiener zu sein.
Erwartungsgemäß ist bei Arbeitslosen die Wohnsituation als schlechter einzustufen. Dezentrale Kohle- oder Holzbeheizung wird von 8,7% der Arbeitslosen und 4,5% der Berufstätigen angegeben. Über Lärm in Wohnung oder Haus berichten 45% der Arbeitslosen gegenüber 37% der Berufstätigen. 34% der Arbeitslosen gegenüber 22% der Berufstätigen geben bei Befragungen im Bundes- Gesundheitssurvey 1998 an, an einer stark befahrenen Haupt- oder Durchgangsstraße zu wohnen.
Zufriedenheit, soziale Kontakte
Gesundheitsbezogenes Verhalten: Rauchen,
Alkoholkonsum, Ernährung, körperliche Aktivität
Hinsichtlich der Höhe des Alkoholkonsums nach Selbstangaben zeigen die Befragungsergebnisse des aktuellen Bundes-Gesundheitssurveys keine wesentlichen Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Berufstätigen. Insbesondere der Anteil von Personen, die einen Gesamtalkoholkonsum in potenziell gesundheitsschädigenden Mengen angeben, unterscheidet sich zwischen Arbeitslosen und Berufstätigen kaum.
Beim Vergleich der Angaben zum Konsum einzelner Nahrungsmittel zeigt sich, dass von Arbeitslosen der Konsum von kohlenhydratreichen Grundnahrungsmitteln (gekochte Kartoffeln, Graubrot, Weißbrot) sowie fettreduzierter Brotaufstriche und Margarine häufiger angegeben wird. Beim Konsum von Milchprodukten, Fleisch, rohem Gemüse und Obst lassen sich keine nennenswerten Unterschiede feststellen. Auf Basis dieser Angaben lässt sich am ehesten eine preisbewusste Ernährung vermuten. Gesundheitliche Effekte oder Risiken lassen sich aus den Angaben nicht pauschal ableiten.
Wöchentlich mindestens 1 Stunde Sport treiben - trotz eines vermeintlich höheren Zeitkontingents - nur ca. 30% der Arbeitslosen im Vergleich zu ca. 40% der Berufstätigen, wobei diese Aussage gleichermaßen für Männer wie Frauen gilt. Leichte Tätigkeiten werden von Arbeitslosen häufiger angegeben, mittelschwere und anstrengende Tätigkeiten tendenziell seltener. Insbesondere im Hinblick auf die sportlichen Aktivitäten lassen sich nach diesen Ergebnissen Potenziale für gesundheitsfördernde Maßnahmen bei Arbeitslosen formulieren.
Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes,
Behinderung
Gesundheitszustand und Dauer der Arbeitslosigkeit
Durch Überstreichen der Grafik mit der Maus erhalten Sie zusätzliche Informationen.
Durch Klick auf die Grafik mit der linken Maustaste (bzw. Return-Taste bei Fokus auf der Grafik) erhalten Sie eine Tabelle mit den Werten der Grafik.
Tabelle 1
Gruppen nach Arbeitslosigkeitserfahrung innerhalb der letzten 5 Jahre und aktuellem Erwerbsstatus |
Gesundheitszustand weniger gut oder schlecht |
|
---|---|---|
Anteil | Risiko* | |
aktuell Berufstätige: | ||
keine vorausgehende Arbeitslosigkeit | 10,90% | 1 (Referenz) |
weniger als 1 Jahr vorausgehend arbeitslos | 12,50% | 1,6 (1,0 bis 2,6) |
ein oder mehr Jahre vorausgehend arbeitslos | 16,70% | 1,7 (0,9 bis 3,0) |
aktuell Arbeitslose: | ||
weniger als 1 Jahr arbeitslos, Nebenverdiener | 11,40% | 0,9 (0,4 bis 2,5) |
ein oder mehr Jahre arbeitslos, Nebenverdiener | 23,80% | 2,1 (0,97 bis 4,4) |
weniger als 1 Jahr arbeitslos, Hauptverdiener | 17,90% | 1,8 (0,8 bis 4,3) |
ein oder mehr Jahre arbeitslos, Hauptverdiener | 39,60% | 4,3 (2,3 bis 8,0) |
(in 5-Jahres-Altersgruppen)
Körpergewicht, Blutdruck, Cholesterin
Erkrankungen und Inanspruchnahme der ambulanten
Gesundheitsversorgung
Bei arbeitslosen Frauen zeigt sich ein deutlich abweichendes Bild. Von ihnen werden lediglich »Durchblutungsstörungen der Beine« signifikant häufiger angegeben. Demgegenüber werden »Blutarmut bzw. Eisenmangel«, »Magenschleimhautentzündung« sowie zwei Erkrankungen mit allergischen Komponenten (»Asthma«, »Neurodermitis«) seltener als von berufstätigen Frauen genannt, bei den übrigen im Fragebogen genannten Erkrankungen ergeben sich keine signifikanten Unterschiede. Geringere Häufigkeiten bei allergischen Erkrankungen unter Arbeitslosen stehen im Einklang mit Beobachtungen, nach denen allergische Erkrankungen - im Gegensatz zu fast allen anderen Erkrankungen - gehäuft in höheren sozialen Schichten diagnostiziert werden. Die Angaben zu »Blutarmut« und »Magenschleimhautentzündung« lassen sich nicht eindeutig interpretieren.
Im Hinblick auf die Inanspruchnahme von ambulanten ärztlichen Leistungen zeigen sich im Bundes-Gesundheitssurvey Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Berufstätigen. Werden von männlichen Arbeitslosen rechnerisch im Mittel 9,8 Kontakte je Jahr (Frauen: 12,7 Kontakte) angegeben, so sind es bei Berufstätigen 7,1 Kontakte (bzw. 11,0 unter Frauen). Gleichfalls liegt der Anteil von Personen mit mehr als 12 Arztkontakten innerhalb eines Jahres unter Arbeitslosen höher (Männer: 26% bei Arbeitslosen vs. 14% bei Berufstätigen; Frauen: 37% vs. 27%).
Krankenhausaufenthalte
Da Versicherte innerhalb eines Jahres ihren Versicherungsstatus oder die Mitgliedschaft in einer Kasse wechseln können, beziehen sich die nachfolgenden Angaben zu Krankenhausaufenthalten nicht auf Versicherte, sondern auf Versicherungszeiten. Die Angabe einer Inanspruchnahme je 1.000 Versicherungsjahre entspricht dabei der Inanspruchnahme, die bei 1.000 durchgängig über ein Jahr versicherten Personen zu erwarten wäre.
Nach altersstandardisierten Auswertungen, d.h. unter Zugrundelegung einer vergleichbaren Altersstruktur in beiden Gruppen, werden bei aktuell Arbeitslosen deutlich mehr Krankenhaustage registriert als bei Berufstätigen. Die Unterschiede sind bei Männern - wie bereits auf Basis der Ergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys zu Vorerkrankungen vermutet werden könnte - mit einem Verhältnis 2,3 : 1 stärker ausgeprägt (Arbeitslose 2.257 Tage vs. Nicht-Arbeitslose 963 Tage je 1.000 Versicherungsjahre) als unter Frauen (Verhältnis 1,7 : 1; arbeitslose Frauen 2.162 Tage vs. nicht-arbeitslose Frauen 1.263 Tage je 1.000 Versicherungsjahre).
Krankenhausaufenthalte nach Diagnosekapiteln
Erhebliche Unterschiede bestehen, bezogen auf einzelne Diagnosen oder Diagnosegruppen, in der Krankenhausverweildauer von Arbeitslosen und Berufstätigen. Abbildungen 3 und 4 zeigen die bei arbeitslosen Männern bzw. Frauen erfassten Leistungstage der GEK-Versicherten in Krankenhäusern im Vergleich zu Leistungstagen bei aktuell Berufstätigen, aufgeteilt nach ausgewählten Diagnosekapiteln der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten in der 10. Revision (ICD10). Auf die angegebenen Kapitel entfallen 99% aller Krankenhaustage. Grundsätzlich gilt, dass Arbeitslose, im Vergleich zu Berufstätigen, in Bezug auf alle Diagnosekapitel eine höhere Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen aufweisen (gemessen an der Verweildauer). Bei Neubildungen, Krankheiten des Kreislaufsystems, der Harn- und Geschlechtsorgane sowie des Bewegungsapparates finden sich geringe bis mäßige Unterschiede zu Ungunsten von Arbeitslosen. Deutlicher erscheinen die Differenzen bei Infektionserkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Krankheiten der Verdauungsorgane sowie bei Verletzungen und Vergiftungen. Unter arbeitslosen Frauen finden sich zudem doppelt so viele schwangerschaftsbedingte Krankenhaustage. Die mit Abstand deutlichsten Unterschiede zeigen sich hinsichtlich stationärer Aufenthalte wegen psychischer Störungen: Arbeitslose Männer verbringen nahezu siebenmal mehr Tage mit einer entsprechenden Diagnose im Krankenhaus als Nicht-Arbeitslose, unter Frauen beträgt das Verhältnis 3 : 1. Nach diesen Ergebnissen lassen sich bei Männern 60% der Unterschiede in der Krankenhausverweildauer zwischen Arbeitslosen und Berufstätigen auf Krankenhaustage mit der Diagnose einer psychischen Störung zurückführen, bei Frauen erklären diese 3% der Differenzen. Schwangerschaftsbedingte Aufenthalte sind unter Frauen für etwa 32% der zusätzlich erfassten Leistungstage von Arbeitslosen verantwortlich zu machen.
Durch Überstreichen der Grafik mit der Maus erhalten Sie zusätzliche Informationen.
Durch Klick auf die Grafik mit der linken Maustaste (bzw. Return-Taste bei Fokus auf der Grafik) erhalten Sie eine Tabelle mit den Werten der Grafik.
Durch Überstreichen der Grafik mit der Maus erhalten Sie zusätzliche Informationen.
Durch Klick auf die Grafik mit der linken Maustaste (bzw. Return-Taste bei Fokus auf der Grafik) erhalten Sie eine Tabelle mit den Werten der Grafik.
Krankenhausaufenthalte: relevante Einzeldiagnosen
In Tabelle 2 sind die - gemessen an der Verweildauer - anteilig bedeutsamsten Einzeldiagnosen unter den bei der GEK versicherten arbeitslosen Männern und Frauen angegeben. Auf die aufgeführten Diagnosen entfallen bei Arbeitslosen beider Geschlechter jeweils 50% der im Jahre 2000 erfassten Krankenhaustage.Von herausragender Bedeutung sind unter arbeitslosen Männern substanzmissbrauchsbedingte Aufenthalte: 14,3% aller Krankenhaustage entfallen allein auf die Diagnose »Verhaltensstörungen durch Alkohol«. Je 1.000 Versicherungsjahre mit Arbeitslosigkeit werden durchschnittlich 324 Tage unter dieser Diagnose im Krankenhaus verbracht, je 1.000 Versicherungsjahre mit Berufstätigkeit sind es demgegenüber nur 32 Tage, was einem Verhältnis von 10 : 1 entspricht.
Diagnosen, die im Zusammenhang mit Substanzmissbrauch stehen (vorrangig ICD 10-Kodes F10, F19, F11, K70, vgl. Tabellen) erklären mehr als ein Drittel der erhöhten Inanspruchnahme von arbeitslosen Männern. Bei Frauen sind diese Diagnosen für etwa 12% der Differenzen zu den Berufstätigen verantwortlich. Aufenthalte wegen normaler Entbindungen sind bei arbeitslosen Frauen für 22% der Unterschiede zu Berufstätigen verantwortlich zu machen. Proportional zu der im Vergleich zu Berufstätigen zweifach erhöhten Anzahl von Geburten je Versicherungszeitraum finden sich unter arbeitslosen Frauen auch entsprechend erhöhte Inanspruchnahmen wegen Geburtskomplikationen.
Im Hinblick auf psychische Erkrankungen sind unter arbeitslosen Männern insbesondere Schizophrenien, Belastungsreaktionen sowie Depressionen im Vergleich zu Berufstätigen deutlich häufiger zu beobachten. Unter arbeitslosen Frauen spielen auch Ess- und Persönlichkeitsstörungen eine verhältnismäßig wichtige Rolle, Aufenthalte wegen Schizophrenie sind allerdings gegenüber berufstätigen Frauen weniger stark erhöht als unter arbeitslosen Männern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unter den Versicherten der GEK Arbeitslosigkeit mit einer deutlich erhöhten Inanspruchnahme stationärer Leistungen verbunden ist, wobei insbesondere psychische Störungen (gemäß Einteilung in der ICD10) eine entscheidende Rolle spielen. Unter arbeitslosen Männern dominieren dabei Aufenthalte im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch. Auf arbeitslose Männer dürfte nach diesen Auswertungen etwa die gleiche Anzahl von Behandlungstagen wegen Alkoholmissbrauch entfallen wie auf die etwa zehnmal größere Gruppe aller männlichen Berufstätigen. Die Beobachtung erscheint auch insofern bedenklich, als dass nach Erfahrungen aus stationären Einrichtungen bei Arbeitslosen im Vergleich zu Berufstätigen deutlich schlechtere Rehabilitationserfolge erwartet werden können.
Vor einer Fehlinterpretation dieser Ergebnisse muss allerdings gewarnt werden. Von allen Männern mit einer längerfristigen Arbeitslosigkeit im Jahr 2000 (mindestens 183 registrierten Arbeitslosigkeitstagen) wurden insgesamt weniger als 3% wegen psychischer Störungen und weniger als 2% wegen alkoholbedingten Erkrankungen innerhalb desselben Jahres im Krankenhaus (mit Kostenübernahme durch die Krankenkasse) behandelt. Ein hoher Anteil der manifest Alkoholkranken ist arbeitslos, jedoch nur ein sehr viel geringerer Anteil der Arbeitslosen hat manifeste Alkoholprobleme.
Tabelle 2
ICD 10 Kode | Diagnose (absteigend nach Verweilzeiten bei Arbeitslosen sortiert) |
KH-Tage bei Arbeitslosen |
Anteil an allen KH-Tagen bei Arbeitslosen |
KH-Tage bei Nicht- Arbeitslosen |
---|---|---|---|---|
je 1.000 VJ | Prozent | je 1.000 VJ | ||
Männer | ||||
F10 | Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol | 324,6 | 14,30 | 32,4 |
F20 | Schizophrenie | 167,0 | 7,40 | 19,3 |
F19 | Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch | 86,1 | 3,80 | 5,7 |
F43 | Reaktionen auf schwere Belastungen | 59,6 | 2,60 | 10,3 |
F32 | Depressive Episode | 48,5 | 2,10 | 16,5 |
K85 | Akute Pankreatitis | 48,0 | 2,10 | 6,6 |
M51 | Sonstige Bandscheibenschäden | 36,9 | 1,60 | 29,8 |
F60 | Spezifische Persönlichkeitsstörungen | 35,5 | 1,60 | 4,0 |
F11 | Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide | 31,1 | 1,40 | 1,5 |
S82 | Fraktur des Unterschenkels | 30,7 | 1,40 | 19,7 |
M23 | Binnenschädigung des Kniegelenkes | 30,6 | 1,40 | 20,5 |
I25 | Chronische ischämische Herzkrankheit | 30,3 | 1,30 | 22,4 |
K40 | Hernia inguinalis (Leistenbruch) | 23,2 | 1,00 | 25,1 |
F48 | Andere neurotische Störungen | 22,5 | 1,00 | 6,6 |
F33 | Rezidivierende depressive Störung | 21,3 | 0,90 | 8,7 |
I21 | Akuter Myokardinfarkt | 21,3 | 0,90 | 14,0 |
C34 | Bösartige Neubildung der Bronchien und der Lunge | 20,8 | 0,90 | 10,3 |
K70 | Alkoholische Leberkrankheit | 20,5 | 0,90 | 2,5 |
G40 | Epilepsie | 19,9 | 0,90 | 5,7 |
F41 | Andere Angststörungen | 19,8 | 0,90 | 4,2 |
F25 | Schizoaffektive Störungen | 18,6 | 0,80 | 3,0 |
M54 | Rückenschmerzen | 17,6 | 0,80 | 12,9 |
Frauen | ||||
O80 | Spontangeburt eines Einlings | 401,39 | 18,5 | 205,94 |
F32 | Depressive Episode | 65,31 | 3,0 | 29,55 |
F10 | Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol | 54,81 | 2,5 | 10,21 |
F20 | Schizophrenie | 48,01 | 2,2 | 14,22 |
F50 | Essstörungen | 46,31 | 2,1 | 13,48 |
F60 | Spezifische Persönlichkeitsstörungen | 45,57 | 2,1 | 8,95 |
F19 | Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch | 41,41 | 1,9 | 1,18 |
M51 | Sonstige Bandscheibenschäden | 39,37 | 1,8 | 20,47 |
F43 | Reaktionen auf schwere Belastungen | 35,73 | 1,6 | 19,74 |
D25 | Leiomyom des Uterus | 33,47 | 1,5 | 36,13 |
F33 | Rezidivierende depressive Störung | 32,16 | 1,5 | 17,65 |
K80 | Cholelithiasis | 28,90 | 1,3 | 20,45 |
O47 | Frustrane Kontraktionen [Unnütze Wehen] | 25,42 | 1,2 | 11,55 |
O20 | Blutung in der Frühschwangerschaft | 24,68 | 1,1 | 12,15 |
M54 | Rückenschmerzen | 21,63 | 1,0 | 10,06 |
F41 | Andere Angststörungen | 21,09 | 1,0 | 7,14 |
F11 | Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide | 19,71 | 0,9 | 0,70 |
E11 | Nicht primär insulinabhängiger Diabetes mellitus | 18,23 | 0,8 | 2,97 |
I83 | Varizen der unteren Extremitäten | 17,60 | 0,8 | 13,73 |
O34 | Betreuung der Mutter bei Anomalie der Beckenorgane | 16,87 | 0,8 | 6,59 |
S82 | Fraktur des Unterschenkels | 16,76 | 0,8 | 14,84 |
R10 | Bauch- und Beckenschmerzen | 16,57 | 0,8 | 17,47 |
C50 | Bösartige Neubildung der Brustdrüse | 15,76 | 0,7 | 21,08 |
Arbeitslosigkeit und Mortalität
In den vier Gruppen zeigten sich deutliche Unterschiede bezüglich der Sterblichkeit. Während rechnerisch unter 100.000 durchgängig Berufstätigen in den drei Folgejahren lediglich 277 Menschen starben, traten bei Personen mit 1 bis unter zwei Jahren Arbeitslosigkeit schon 463 Todesfälle und bei Mitgliedern mit mehr als 2 Jahren dokumentierter Arbeitslosigkeit schließlich 965 Todesfälle je 100.000 Mitglieder auf (vgl. Abbildung 5). Das Risiko der Sterblichkeit erhöht sich kontinuierlich in Abhängigkeit von der vorausgehenden Arbeitslosigkeitsdauer, auch wenn Gruppenunterschiede hinsichtlich der Geschlechts- und Altersstruktur statistisch bereinigt werden: Bei Versicherten mit 1 bis unter 2 Jahren Arbeitslosigkeit zeigt sich im Vergleich zu den durchgängig Berufstätigen eine 1,6fach erhöhte Mortalität, bei Personen mit mindestens 2 Jahren Arbeitslosigkeit in den vorangehenden 3 Jahren ist im Folgezeitraum das Mortalitätsrisiko 3,4fach erhöht.
Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Sterblichkeit sind in der internationalen wissenschaftlichen Literatur mehrfach aufgezeigt worden, eine bereits zu Beginn der 90er Jahre publizierte Studie auf der Basis von Kassendaten aus Deutschland hatte - bei einer seinerzeit nur sehr viel kleineren Stichprobengröße - noch keine statistisch abgesicherten Mortalitätsunterschiede nachweisen können.
Während die Berechnungen zur Mortalität bei einer Beschränkung auf männliche Berufstätige bzw. Arbeitslose zu vergleichbaren Ergebnissen führen, ergeben Modellrechnungen bei einer Beschränkung auf Frauen auf der Basis von GEK-Daten - mitbedingt durch eine geringere Stichprobengröße und Gesamtsterblichkeit - keine interpretierbaren Ergebnisse.
Durch Überstreichen der Grafik mit der Maus erhalten Sie zusätzliche Informationen.
Durch Klick auf die Grafik mit der linken Maustaste (bzw. Return-Taste bei Fokus auf der Grafik) erhalten Sie eine Tabelle mit den Werten der Grafik.
Geschlechtsspezifische Ausprägung
des Zusammenhanges von
Arbeitslosigkeit und Gesundheit
- Zumindest in den alten Bundesländern weisen Männer auch heutzutage noch eine stärkere Erwerbsorientierung als Frauen auf. Ein Arbeitsplatzverlust dürfte für sie daher zu stärkeren Rollenkonflikten führen. Gleichzeitig ist ein Arbeitsplatzverlust bei Männern in Partnerschaften - sofern sie zuvor die Hauptverdiener waren - typischerweise mit größeren finanziellen Einschränkungen verbunden.
- Bei einem Teil der »typischen Männerberufe« dürften körperliche Einschränkungen schneller zu Einschränkungen der erwarteten Arbeitsleistung führen, was das Risiko für eine Arbeitslosigkeit oder den Verbleib in Arbeitslosigkeit erhöht.
- Ein Teil der Arbeitslosigkeitszeiten bei Frauen steht in zeitlich engem Zusammenhang mit Schwangerschaften und Erziehungszeiten und kann insofern nicht als Folge gesundheitlicher Einschränkungen gesehen werden. Gleichzeitig dürfte das Risikoverhalten hinsichtlich Ernährung, Alkoholkonsum und Rauchen in den genannten Phasen eher positiv beeinflusst sein.
- Vor dem Hintergrund der klassischen familiären Rollenaufteilung dürfte es für Frauen zumindest in den alten Bundesländern auch weiterhin einfacher sein, im Falle einer aussichtslos erscheinenden Arbeitsplatzsuche, ggf. auch im Zusammenhang mit gesundheitlichen Einschränkungen, eine primär nicht angestrebte Hausfrauenrolle zu übernehmen und sich spätestens nach Ablauf von oftmals im Vergleich zu Männern nur kürzer bestehenden finanziellen Ansprüchen nicht mehr arbeitslos zu melden. Insofern wären längerfristig arbeitssuchende Frauen eher in der so genannten »Stillen Reserve« zu vermuten als Männer.
Ursache und Wirkung im Zusammenhang
von Gesundheit und
Arbeitslosigkeit
Selektionshypothese: Krankheit als Ursache von
Arbeitslosigkeit
Nicht ermittelt werden kann in derartigen Auswertungen von Kassendaten, inwieweit ein drohender Arbeitsplatzverlust oder ein schlechtes Betriebsklima mit einem entsprechend erhöhten Kündigungsrisiko auch der Auslöser von gehäuften Krankschreibungen gewesen sein könnte, womit diese Erkrankungsfälle weniger als eine Ursache denn als ein Symptom des Entlassungsrisikos anzusehen wären. Trotz dieses Einwandes ist jedoch davon auszugehen, dass Selektionseffekte eine maßgebliche Rolle im beobachteten Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit spielen. Damit ist »Krankheit« allerdings keinesfalls als Ursache des aktuell bestehenden allgemein hohen Arbeitslosigkeitsniveaus anzusehen, Selektionseffekte können lediglich die relativen individuellen Risiken für eine Arbeitslosigkeit erklären.
Kausalitätshypothese: Arbeitslosigkeit als Ursache
von Erkrankungen
Eine weitere Schwierigkeit bei Untersuchungen zu Auswirkungen der Arbeitslosigkeit ergibt sich aus den teilweise zu erwartenden zeitlichen Verzögerungen möglicher Auswirkungen. Während bei Eintritt der Arbeitslosigkeit bereits relativ kurzfristig mit sozialen Auswirkungen, psychischen Symptomen, Verhaltensänderungen oder Befindlichkeitsstörungen gerechnet werden kann, wären somatische Erkrankungen als Folge der Arbeitslosigkeit zum Teil eher mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung zu erwarten. Dies dürfte z.B. für die meisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen gelten, die sich erst über den Verlauf von Jahren entwickeln, weshalb kurzfristig lediglich bei erheblichen, bereits vorbestehenden pathologischen Veränderungen mit einer Manifestation entsprechender Erkrankungen gerechnet werden kann.
Anhand der Daten der GEK können kurz- bis mittelfristige Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf das Risiko einer schwerwiegenden Erkrankung untersucht und dabei gleichzeitig Auswirkungen von Vorerkrankungen berücksichtigt werden.
In die Auswertung wurden ausschließlich Männer, die in den Jahren 1995 bis 1997 durchgängig als Berufstätige (d.h. ohne Zeiten der Arbeitslosigkeit) bei der Kasse versichert waren, einbezogen. Alle in diesem Zeitraum erfassten Krankmeldungen konnten so als Hinweise auf Vorerkrankungen berücksichtigt werden. In einem nächsten Schritt wurde das Risiko einer schwerwiegenden Erkrankung (definiert durch insgesamt mehr als 3 Wochen Krankenhausbehandlung) innerhalb der Jahre 1998 bis 2000 in Abhängigkeit von der im selben Zeitraum registrierten Arbeitslosigkeit ermittelt. Dabei zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Erkrankungsrisiko und Arbeitslosigkeitsdauer. Im Vergleich zu durchgängig Beschäftigten zeigten Personen mit mehr als einem halben Jahr Arbeitslosigkeit in den Jahren 1998 bis 2000 ein ca. 2,6fach erhöhtes Risiko für längerfristige Krankenhausaufenthalte, bei einem und mehr Jahren Arbeitslosigkeit war das entsprechende Risiko auf mehr als das 3fache erhöht.
Überprüft man nun zusätzlich die Einflüsse von Vorerkrankungen (in Form der in den Jahren 1995 bis 1997 erfassten Arbeitsunfähigkeiten nach Diagnose und Dauer), reduziert sich das beobachtete relative Risiko für längerfristige Krankenhausbehandlungen von Arbeitslosen in den beiden genannten Gruppen im Vergleich zu durchgängig Berufstätigen lediglich auf 2,1 bzw. 2,3 (vgl. Abbildung 6).
Durch Überstreichen der Grafik mit der Maus erhalten Sie zusätzliche Informationen.
Durch Klick auf die Grafik mit der linken Maustaste (bzw. Return-Taste bei Fokus auf der Grafik) erhalten Sie eine Tabelle mit den Werten der Grafik.
Hinweise auf gesundheitsrelevante Effekte der Arbeitslosigkeit finden sich auch in Untersuchungen, bei denen Veränderungen von quantitativ bestimmbaren Messergebnissen im zeitlichen Verlauf betrachtet werden. Diese Studien beziehen sich in der Regel auf psychische und soziale Beeinträchtigungen. Verhältnismäßig häufig belegt sind in derartigen Untersuchungen Verbesserungen der psychischen Situation bei Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit.
Bei Massenentlassungen, die kurzfristig (nahezu) alle Mitarbeiter einer Firma oder Fabrikationsstätte betreffen, spielen Selektionseffekte kaum eine Rolle. Eine Reihe von bekannten Studien zu Auswirkungen der Arbeitslosigkeit (wie auch die einleitend erwähnte von M. Jahoda) basieren auf Erhebungen in entsprechenden Situationen. Insbesondere kurz- bis mittelfristige soziale und psychische Auswirkungen der Arbeitslosigkeit wurden hierbei gut dokumentiert. Bei der quantitativen Bewertung der Ergebnisse besteht allerdings die Schwierigkeit, dass geeignete Kontrollgruppen sowie längerfristig angelegte Untersuchungen auf der Basis von größeren Populationen, insbesondere zur Bewertung körperlicher Veränderungen, fehlen.
In einigen Aspekten dürften gesundheitliche Auswirkungen von Massenentlassungen zudem nur bedingt mit Auswirkungen von individuell ausgesprochenen Entlassungen vergleichbar sein. Massenentlassungen bergen einerseits ein höheres Potenzial für eine Solidarisierung bei einem gleichzeitig geringeren individuellen Gefühl des Versagens, andererseits können ganze Regionen in kurzer Zeit spürbar von den Folgen der Arbeitslosigkeit betroffen sein.
Arbeitslosigkeit hat nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitslosen selbst. Zu den Betroffenen sind in unterschiedlichem Maß Familien, aber auch Personen aus dem sozialen Umfeld zu rechnen. Auch Berufstätige können in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit indirekt von der Arbeitslosigkeit betroffen sein: Lohnverzicht, eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, der Verlust von gesichert erscheinenden Perspektiven, materielle Einschränkungen sowie die Verschleppung von Krankheiten durch die individuelle kurzfristige Vermeidung von Krankheitsfehlzeiten können die Folge sein. Die Auswirkungen von Arbeitsplatzunsicherheit und die Rolle der sozialen Umgebung konnten in einer Reihe von Studien belegt werden. Die Annahme von Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf Nicht-Arbeitslose schränkt die Definition von adäquaten Vergleichsgruppen in Studien zur Arbeitslosigkeit stark ein. Vergleiche zwischen Berufstätigen und Arbeitslosen offenbaren nach diesen Erkenntnissen zumindest nicht zwangsläufig alle potenziell schädigenden Einflüsse der Arbeitslosigkeit. Ohne Definitionen von Vergleichsgruppen im engeren Sinne kommen so genannte ökologische Studien auf der Basis von aggregierten Daten aus, die in Zeitreihenanalysen die Zusammenhänge von Veränderungen zwischen ausgewählten Indikatoren untersuchen (z.B. Veränderung nationaler Arbeitslosenquoten und Sterbeziffern über Jahre bis Jahrzehnte). H. Brenner konnte bereits in den 70er und 80er Jahren in entsprechenden Studien Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Sterblichkeit unter Berücksichtigung von zeitlichen Verzögerungen für mehrere Industrienationen nachweisen. Diese Studien lieferten wesentliche grundsätzliche Hinweise auf entsprechende Zusammenhänge, können jedoch aus methodischen Gründen zwangsläufig nicht als beweisend für einen kausalen Zusammenhang angesehen werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Vielzahl von Ergebnissen für die Annahme bedeutsamer und ursächlicher Effekte der Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit sprechen. Eine quantitative Abgrenzung der Bedeutung kausaler Effekte gegenüber der Bedeutung von Selektionseffekten bleibt jedoch äußerst schwierig.
Gesundheitsrelevante Interventionen
bei Arbeitslosigkeit
Eine Vielzahl der Maßnahmen betrifft die Gesundheit von Arbeitslosen vorrangig indirekt. Hierzu zählen finanzielle Unterstützungen von Arbeitslosen (Arbeitslosengeld bzw. -hilfe), insbesondere aber auch unterschiedliche Maßnahmen zur Arbeitsplatzbeschaffung (regionale Wirtschaftsstrukturförderung, ABM, »Hilfe zur Arbeit«, klassische Arbeitsvermittlung, Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen). Positive Auswirkungen auf die Gesundheit sind bei einem Erfolg der Maßnahmen im Sinne der Schaffung von vor allem dauerhaften Arbeitsverhältnissen zu erwarten.
Während beschäftigungsfördernde Maßnahmen im engeren Sinne vorrangig von staatlichen oder kommunalen Institutionen koordiniert sind, existiert eine große Zahl psychosozialer und teilweise gesundheitsorientierter Betreuungsangebote und Projekte, die in Deutschland in erster Linie in freier oder kirchlicher Trägerschaft oder von Gewerkschaften und Verbänden getragen werden.
Spezifische gesundheitlich orientierte Angebote für Arbeitslose in einem regulären institutionellen Rahmen existieren zurzeit in Deutschland kaum. Der Sinn derartiger Angebote wird vorwiegend vor dem Hintergrund einer möglichen weiteren Ausgrenzung von Arbeitslosen kontrovers diskutiert. Damit fehlen allerdings auch Einrichtungen, die von ihrem Auftrag her für gesundheitliche Belange von Arbeitslosen verantwortlich sind und entsprechende Interessen und Aktivitäten auf regionaler Ebene koordinieren und in der Öffentlichkeit vertreten können, vor allem dort, wo entsprechende Aktivitäten nicht aus der Eigeninitiative von Betroffenen getragen werden.
Implikationen und Schlussfolgerungen
Ein zentraler Ansatz zur Verhinderung potenzieller Folgen von Arbeitslosigkeit ist - im Sinne einer primären Prävention - immer in der langfristigen Schaffung und Sicherung einer weitgehenden Vollbeschäftigung zu sehen. Insbesondere in Phasen hoher Arbeitslosigkeit ist Beschäftigung allerdings keinesfalls mit Gesundheit gleichzusetzen. Schlechte Arbeitsbedingungen ohne längerfristige Beschäftigungsperspektive können im Einzelfall mit größeren gesundheitlichen Risiken verbunden sein als Phasen der Arbeitslosigkeit.
Auf politischer Ebene erscheint - auch im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen des Arbeitsmarktes - die Förderung wettbewerbsschwächerer Arbeitnehmer vordringlich. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Berufsbiografien in Zukunft weniger stetig als in zurückliegenden Jahrzehnten verlaufen und bei einer höheren Zahl von Tätigkeitswechseln insbesondere weniger flexible Arbeitnehmer von negativen Auswirkungen betroffen sein werden. Elemente der Weiterqualifizierung, sei es im Beruf oder in Phasen der Arbeitslosigkeit, dürften auch in höherem Alter zunehmend eine Rolle spielen. In Phasen der Arbeitslosigkeit können sie für Betroffene bei entsprechendem Realitätsbezug und damit verbundenen Beschäftigungsaussichten entscheidende Perspektiven liefern. Eine alternde Gesellschaft wird es sich zudem nicht mehr leisten können, überwiegende Teile der Berufstätigen in den vorzeitigen Ruhestand zu entlassen.
Unter optimistischen Annahmen könnte die Einbeziehung weiterer Bevölkerungskreise in die Erwerbstätigkeit zu mehr Toleranz gegenüber individuellen Einschränkungen oder auch gegenüber Abweichungen vom bisher dominierenden Ideal einer stetigen Berufsbiografie führen
Fußnoten
1 Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle (Hrsg) (1933): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie. Bearbeitet und herausgegeben von der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle (Fünfter Band der Psychologischen Monographien, herausgegeben von Prof.Dr. Karl Bühler). Hirzel, Leipzig.
2 Die Eingrenzung auf diese Altersgruppe erfolgt, da von jüngeren (18 bis 19 Jahre) und älteren (60 bis 65 Jahre) Befragten nicht genügend Daten vorlagen.
3 Mueller U, Heinzel-Gutenbrunner M (2001): Krankheiten und Beschwerden (subjektive Gesundheit) unter Bewertung der eigenen Gesundheit. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Weiterführende Literatur
Brenner M H (1979) Mortality and the National Economy - a review, and the Experience of England and Wales, 1936 to 76. The Lancet Sep. 15, 568 to 573
Claussen B, Bertran J (Hrsg) (1999) The ICOH Working Group »Unemployment and Health«. International Archives of Occupational and Environmental Health. Jan 1999; 72 Suppl; Springer Verlag, Berlin Heidelberg.
Elkeles T (2001) Arbeitslosigkeit und Gesundheitszustand. In: Mielk A, Bloomfield K (Hrsg): Sozial-Epidemiologie. Einführung in die Grundlagen, Ergebnisse und Umsetzungsmöglichkeiten. Juventa Verlag, 71 bis 82
Kieselbach T (2000) Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen. In: Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit, 103 bis 136
Schach E (1994) Die Gesundheit von Arbeitslosen und Erwerbstätigen im Vergleich: eine Analyse anhand von AOK- und Befragungsdaten. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Fb 708, Dortmund. Wirtschaftsverlag NW.
Wacker A (1983) Arbeitslosigkeit: soziale und psychische Folgen. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main.
Tabellen mit Werten aus Abbildungen 1 bis 6
Jahr | Gesamt | Alte BL | Neue BL |
---|---|---|---|
1970 | . | 0,5 | . |
1971 | . | 0,7 | . |
1972 | . | 0,9 | . |
1973 | . | 0,9 | . |
1974 | . | 2,0 | . |
1975 | . | 4,4 | . |
1976 | . | 4,2 | . |
1977 | . | 4,2 | . |
1978 | . | 4,0 | . |
1979 | . | 3,4 | . |
1980 | . | 3,3 | . |
1981 | . | 4,8 | . |
1982 | . | 6,9 | . |
1983 | . | 8,8 | . |
1984 | . | 8,6 | . |
1985 | . | 8,8 | . |
1986 | . | 8,5 | . |
1987 | . | 8,3 | . |
1988 | . | 8,4 | . |
1989 | . | 7,6 | . |
1990 | . | 7,0 | . |
1991 | 6,9 | 6,0 | 9,5 |
1992 | 8,1 | 6,2 | 14,6 |
1993 | 9,3 | 7,8 | 15,1 |
1994 | 10,5 | 9,0 | 16,3 |
1995 | 10,0 | 8,9 | 14,2 |
1996 | 11,1 | 9,8 | 16,2 |
1997 | 12,3 | 10,7 | 18,7 |
1998 | 12,0 | 10,2 | 19,4 |
1999 | 11,4 | 9,6 | 18,3 |
2000 | 10,3 | 8,3 | 18,2 |
2001 | 9,9 | 7,9 | 18,4 |
Gruppen nach Arbeitslosigkeitserfahrung und aktuellem Erwerbsstatus |
Gesundheitszustand weniger gut oder schlecht |
---|---|
aktuell Berufstätige: | |
Berufstätig, keine Arbeitslosigkeit in 5 Jahren | 10,90 |
Berufstätig, unter 1 Jahr Arbeitslosigkeit in 5 Jahren | 12,50 |
Berufstätig, über 1 Jahr Arbeitslosigkeit in 5 Jahren | 16,70 |
aktuell Arbeitslose: | |
Arbeitslos unter 1 Jahr, Nebenverdiener | 11,40 |
Arbeitslos über 1 Jahr, Nebenverdiener | 23,80 |
Arbeitslos unter 1 Jahr, Hauptverdiener | 17,90 |
Arbeitslos über 1 Jahr, Hauptverdiener | 39,60 |
ICD-10-Diagnosekapitel | Arbeitslose | Berufstätige |
---|---|---|
Bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten | 35 | 15 |
Neubildungen | 127 | 90 |
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten | 43 | 24 |
Psychische und Verhaltensstörungen | 912 | 132 |
Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane | 89 | 60 |
Krankheiten des Kreislaufsystems | 198 | 133 |
Krankheiten des Atmungssystems | 76 | 52 |
Krankheiten des Verdauungssystems | 240 | 112 |
Krankheiten der Haut und der Unterhaut | 46 | 26 |
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes | 183 | 130 |
Krankheiten des Urogenitalsystems | 37 | 35 |
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde | 49 | 26 |
Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen | 205 | 119 |
ICD-10-Diagnosekapitel | Arbeitslose | Berufstätige |
---|---|---|
Bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten | 28 | 15 |
Neubildungen | 164 | 146 |
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten | 58 | 29 |
Psychische und Verhaltensstörungen | 500 | 167 |
Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane | 69 | 54 |
Krankheiten des Kreislaufsystems | 80 | 68 |
Krankheiten des Atmungssystems | 51 | 45 |
Krankheiten des Verdauungssystems | 129 | 97 |
Krankheiten der Haut und der Unterhaut | 21 | 18 |
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes | 167 | 114 |
Krankheiten des Urogenitalsystems | 133 | 105 |
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett | 569 | 285 |
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde | 54 | 39 |
Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen | 105 | 66 |
Dauer der vorausgehenden Arbeitslosigkeit |
3-Jahres-Sterblichkeit je 100.000 Mitglieder |
---|---|
2 und mehr Jahre | 965 |
1 bis unter 2 Jahre | 463 |
1 bis 364 Tage | 322 |
0 Tage | 277 |
Dauer der vorausgehenden Arbeitslosigkeit |
vor Adjustierung für Vorerkrankungen |
nach Adjustierung für Vorerkrankungen |
---|---|---|
1 und mehr Jahre | 3,2 | 2,3 |
183 bis 364 Tage | 2,6 | 2,1 |
1 bis 182 Tage | 2,0 | 1,7 |
0 Tage | 1,0 | 1,0 |