Kapitel 8.3.2 Medikamentengebrauch [Gesundheit in Deutschland, 2015]
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8.3.2
MEDIKAMENTENGEBRAUCH
Nach Ergebnissen der DEGS1-Studie zur Arzneimittelanwendung (siehe Kapitel 5.6) zeigt sich, dass im Alter zwischen 65 und 79 Jahren nahezu jede Frau (96,7%) und jeder Mann (92,6%) aktuell mindestens ein Arznei- oder Nahrungsergänzungsmittel anwendet (in den letzten sieben Tagen vor Untersuchung). Signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede gibt es nur in der Gruppe der 65- bis 69-Jährigen (Frauen 97,5%, Männer 88,6%). Das Arzneimittelspektrum wird bei 65-Jährigen und Älteren dominiert von Medikamenten zur Behandlung des Herz-Kreislauf-Systems (Frauen 74,3%, Männer 71,1%), gefolgt von Arzneimitteln zur Behandlung des Verdauungssystems beziehungsweise des Stoffwechsels (Frauen 48,5%, Männer 34,9%) und des Nervensystems (Frauen 35,9%, Männer 22,7%). Frauen weisen in fast allen Arzneimittelklassen eine höhere Anwendungshäufigkeit auf. Ausnahmen bilden die Arzneimittel zur Therapie des Blutes und des blutbildenden Systems sowie zur Behandlung des Urogenitalsystems.
Die gleichzeitige Anwendung von fünf und mehr Arzneimitteln (Polypharmazie) ist mit einem erhöhten Risiko von Arzneimittelwechselwirkungen (Interaktionen) und Nebenwirkungen (unerwünschten Arzneimittelwirkungen) verbunden (siehe Kapitel 5.6) [115 bis 117]. Ärztlich verordnete Polypharmazie sowie Polypharmazie insgesamt sind aufgrund höherer Krankheitslast und Multimorbidität bei Älteren deutlich häufiger.
Analysen der Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) zeigen, dass innerhalb eines Quartals etwa einem Drittel aller Personen über 65 Jahre fünf und mehr Medikamente zur täglichen Anwendung verordnet wurden. Die Spannbreite reicht dabei von rund 22% bei den 65- bis 69-Jährigen bis zu 50% bei den 90 bis 94 Jahre alten Frauen und Männern [118]. Die Verordnungshäufigkeit mit durchschnittlich mehr als vier definierten Tagesdosen ist auch laut Arzneiverordnungsreport 2010 in der Altersgruppe von 85 bis 94 Jahren am höchsten [119]. Nach Schätzungen einer prospektiven Studie im Rahmen des Pflegeforschungsverbundes NRW erhält ein Drittel der Menschen mit chronischen Erkrankungen Mehrfachmedikationen von vier oder mehr Arzneimitteln [120]. In der DEGS1-Studie beträgt die Prävalenz für Polypharmazie insgesamt - einschließlich nicht ärztlich verordneter Präparate - im Alter von 65 bis 79 Jahren 46,6% (Frauen 50,5%, Männer 42,1%) [121]. Ärztlich verordnete Polypharmazie erreicht bei Frauen 35,1% und bei Männern 33,2%. Sie liegt damit ähnlich hoch wie die Ergebnisse aus den Verordnungsstatistiken. Polypharmazie ist bis zum Alter von 69 Jahren bei Frauen häufiger als bei Männern, danach sind die Unterschiede nicht mehr signifikant. Bei der ärztlich verordneten Polypharmazie liegen lediglich im Alter von 40 bis 49 Jahren geschlechtsspezifische Unterschiede vor [121].
Je älter die Patienten sind und je mehr Medikamente sie einnehmen, desto größer ist das Risiko für stationäre Notfalleinweisungen durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Die meisten dieser Einweisungen bei Älteren waren nach einer amerikanischen Studie durch gerinnungshemmende Mittel und Insuline bedingt [122].
Problematisch ist bei älteren Menschen, dass durch veränderte Stoffwechselvorgänge einschließlich reduzierter Nierenfunktion arzneilich wirksame Substanzen anders ausgeschieden werden beziehungsweise im Körper akkumulieren können. Hinzu kann eine erhöhte Empfindlichkeit kommen, zum Beispiel für bestimmte - etwa anticholinerge und sedierende - Effekte von Arzneimitteln. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurden Wirkstoffe identifiziert, die für Ältere als potenziell inadäquate Medikation (PIM) angesehen werden. Eine solche PIM wird als Risikofaktor für unerwünschte Arzneimittelereignisse erachtet [123]. Aktuellen Daten zufolge erhalten im statistischen Mittel drei bis vier von zehn Menschen im Alter über 65 Jahre potenziell inadäquate Arzneimittel (PIM) [124].
Literatur
115 | Lai S, Liao K, Liao C et al. (2010) Polypharmacy correlates with increased risk for hip fracture in the elderly: a population-based study. Medicine 89:295 to 299 |
116 | Haider S, Johnell K, Thorslund M et al. (2007) Trends in polypharmacy and potential drug-drug interactions across educational groups in elderly patients in Sweden for the period 1992 to 2002. Int J Pharmacol Ther 45:643 to 653 |
117 | Ziere G, Dieleman J, Hofman A et al. (2006) Polypharmacy and falls in the middle age and elderly population. Br J Clin Pharmaco 61:218 to 223 |
118 | Glaeske G, Schicktanz C (2013) BARMER GEK Report. Auswertungsergebnisse der BARMER GEK Arzneimitteldaten aus den Jahren 2011 bis 2012. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse. Asgard Verlag, Siegburg |
119 | Coca V, Nink K (2010) Arzneimittelverordnungen nach Alter Geschlecht. In: Schwabe U PD (Hrsg) Arznei-Verordnungsreport 2010. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, S. 933 bis 946 |
120 | Müller-Mundt PG, Schaeffer D (2011) Bewältigung komplexer Medikamentenregime bei chronischer Krankheit im Alter. Z Gerontol Geriatr 44(1):6 bis 12 |
121 | Knopf H, Grams D (2013) Arzneimittelanwendung von Erwachsenen in Deutschland: Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 56(5/6):868 bis 877 |
122 | Budnitz DS, Lovegrove MC, Shehab N et al. (2011) Emergency hospitalizations for adverse drug events in older Americans. N Engl J Med 365(21):2002 to 2012 |
123 | Holt S, Schmiedl S, Thürmann P (2++010) Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste. Potentially Inappropriate Medications in the Elderly: The PRISCUS List. Dtsch Arztebl Int 2010 107(31 bis 32): 543 bis 51 |
124 | Aman U, Schmedt N, Garbe E (2012) Ärztliche Verordnungen von potenziell inadäquater Medikation bei Älteren: Eine Analyse basierend auf der PRISCUS-Liste. Dtsch Arztebl Int 109(5):69 bis 75 |
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Gesundheitsberichterstattung des Bundes 27.01.2023