Diabetes mellitus, Kapitel 5.20 [Gesundheitsbericht für Deutschland, 1998]
[Pneumonie, Kapitel 5.19] [Karies und Parodontopathien, Kapitel 5.21] [Abstrakt] [Inhaltsverzeichnis] [Literaturverzeichnis]
5.20 Diabetes mellitus1)
In den letzten Jahrzehnten hat die Häufigkeit des Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) erheblich zugenommen. Es wird geschätzt, daß derzeit fast 4 Mio. Menschen in Deutschland davon betroffen sind. Durch nicht selten schwerwiegende Folgen wie Beinamputationen, Herzinfarkt, Nierenversagen, Erblinden, Nervenleiden, Probleme während einer Schwangerschaft und vorzeitigen Tod sowie die Notwendigkeit einer jahrelangen Behandlung verursacht Diabetes großes individuelles Leid und erhebliche gesellschaftliche Kosten. Qualifizierte Betreuung und Kompetenz der Betroffenen können diese Folgen vermindern und die Lebenserwartung, die Lebensqualität und die Arbeitsfähigkeit verbessern. Auch eine Vorbeugung ist heute vorstellbar.
Krankheitsbild und Hauptformen
Diabetes mellitus beruht auf einer mangelnden
Insulinwirkung. Insulin ist ein von der Bauchspeicheldrüse produziertes Hormon, das u.a. die Aufnahme und den
Abbau von Traubenzucker (Glukose) in den Körperzellen steuert. Wenn die Insulinbildung ausfällt oder die
Körperzellen schlecht auf Insulin ansprechen, kann Traubenzucker nicht normal umgesetzt werden und reichert sich
dann in Geweben, Blut und Urin an. Oft kommt es dabei auch zu Störungen im Fett-, Eiweiß- und
Mineralstoffwechsel.
Beim Typ I des Diabetes werden die "Inselzellen" in der Bauchspeicheldrüse durch einen
immunologischen Prozeß teilweise zerstört; dies hat einen Insulinmangel zur Folge. Neu erkrankte
Typ-I-Diabetiker scheiden große Mengen Harn aus, haben viel Durst, verlieren an Gewicht und ermüden schnell.
Hinzu kommen oft Sehstörungen, Hautinfektionen, Übelkeit, Brechreiz und Bauchschmerzen. Ohne Behandlung
können Typ-I-Diabetiker das Bewußtsein verlieren (Koma) und an der Stoffwechselentgleisung sterben.
Bis zum Alter von 40 Jahren ist Typ-I-Diabetes die häufigste Form. Er kommt, wenn auch selten,
bereits bei Kindern und Jugendlichen vor (juveniler Diabetes mellitus). Typ-I-Diabetiker müssen lebenslang mit
Insulin behandelt werden, das sie sich i.a. selbst meist mehrfach täglich unter die Haut injizieren
(insulinabhängiger Diabetes,
Beim Diabetes vom Typ II sprechen die Körperzellen auf Insulin schlecht an, und Aufnahme und
Umsatz von Glukose sind verzögert. Es besteht zunächst kein Insulinmangel (nicht insulinabhängiger
Diabetes,
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D
iabetes
M
ellitus, NIDDM). Die Krankheit beginnt
schleichend und wird oft erst zufällig bei der Diagnostik einer anderen Krankheit entdeckt, z.B. eines
Herzinfarkts. Der Diabetes Typ II läßt sich durch Diät und Medikamente (Tabletten) behandeln. Im
weiteren Verlauf kann es jedoch zur "Erschöpfung" der Inselzellen kommen, die eine Insulinbehandlung erforderlich
macht.
Diabetes Typ II tritt vorwiegend im höheren Lebensalter auf und wird dann auch als
"Altersdiabetes" bezeichnet. Auch beim Typ II des Diabetes ist eine Therapie lebenslang notwendig.
Die seltenen sekundären Formen des Diabetes (symptomatischer Diabetes), z.B. bei Krankheiten
innerer Organe, Vergiftungen usw., werden hier nicht behandelt.
Gefährdungen/Risikofaktoren
Als Ursache für den Diabetes Typ I vermutet
man immunologische Prozesse, bei denen (Auto-)Antikörper die eigenen Inselzellen zerstören. Neben Erbfaktoren
spielen wahrscheinlich Virusinfektionen, frühes Abgestilltwerden, Kuhmilchernährung im frühen
Säuglingsalter und Kaffeekonsum der Mutter in der Schwangerschaft eine Rolle.
Beim Typ-II-Diabetes steht eine erbliche Veranlagung zwar im Vordergrund, aber Übergewicht und
Bewegungsmangel spielen für seine Entstehung ebenfalls eine große Rolle.
Diabetiker haben bei schlechter Stoffwechselkontrolle und -einstellung, Übergewicht,
ungünstiger Lebensmittelauswahl und Bewegungsmangel häufig einen erhöhten Blutdruck, erhöhte Werte
für Blutfette, insbesondere Cholesterin mit niedriger Dichte (
l
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ipoprotein - LDL-Cholesterin),
für Triglyceride und Harnsäure sowie niedrige Werte für einen
Gefäß-Schutzfaktor, das HDL-Cholesterin (
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d
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l
ipoprotein). Dadurch werden die
Arterien im Sinne einer Arteriosklerose geschädigt. Zusätzliches Risikoverhalten wie Zigarettenrauchen oder
hoher Alkoholkonsum wirkt sich bei Diabetikern besonders ungünstig aus.
Verbreitung
Bestand und Trend
Aufgrund von Daten des Zentralen Diabetesregisters der ehemaligen DDR und Stichprobenerhebungen im Westen und Osten schätzt man, daß es in Deutschland insgesamt etwa 3,7 Mio. Menschen gibt, bei denen Diabetes festgestellt wurde, das entspricht etwa 4,6% der Bevölkerung. Der Anteil der Diabetiker an der Bevölkerung (die Prävalenz) nimmt mit dem Lebensalter zu. Bei den über 60jährigen sind Frauen sowohl absolut wie auch relativ häufiger betroffen. Abb. 5.20.1 zeigt, wieviel Prozent der 25 bis 69jährigen bei den Gesundheitssurveys angaben, an Diabetes zu leiden.
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Abb. 5.20.1: Prävalenz von Diabetes 1991 |
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Quelle: RKI, Gesundheitssurveys. |
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Weitere Informationen zum Thema: Prävalenz von Diabetes
-Ad hoc Tabelle 327
-Themenheft 24 - Diabetes mellitus
Man schätzt, daß 5 bis 7% der 3,7 Mio. Diabetiker dem Typ I und etwa 93 bis 95% dem Typ II
zuzurechnen sind. Damit gehören in Deutschland etwa 190.000 bis 260.000 Diabetiker zum Typ I und rund 3,5 Mio. zum Typ
II. Es gibt aber auch unerkannte Fälle, zu denen vor allem Erkrankte zählen, bei denen der Diabetes noch
nicht so ausgeprägt ist.
Auch die besonderen hormonellen Bedingungen einer Schwangerschaft können einen Diabetes
auslösen und ungünstige Folgen für Mutter und Kind haben. Nach der Entbindung verschwindet er aber
meistens wieder, um dann im höheren Alter erneut und dauerhaft aufzutreten. Durch die üblichen
Vorsorgeuntersuchungen wird der sog. Gestationsdiabetes bei etwa 2 von 1.000 Schwangerschaften entdeckt. Mit
empfindlicheren Tests wurde er neuerdings sogar bei etwa 6% der Schwangeren festgestellt.
Im Gegensatz zu einigen anderen Ländern läßt sich für Deutschland keine Zunahme
des Typ-I-Diabetes feststellen. Ganz anders stellt sich dies für den Typ II dar.
In den zurückliegenden fünfzig Jahren ist der Bestand auf etwa das 20fache angestiegen.
Ein Teil der Ursachen für diesen Trend liegt in der höheren Lebenserwartung der Diabetiker, in Folgen des
Wohlstandes wie Übergewicht und Bewegungsmangel sowie darin, daß durch Screening Diabetes heute früher
entdeckt wird. Vor allem aber ist Typ-II-Diabetes ein Gesundheitsproblem von älteren Menschen.
Schon deshalb muß man mit einer zunehmenden Prävalenz an Diabetikern in Deutschland
rechnen, denn die Zahl älterer Menschen und ihr Anteil an der Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten
weiter zunehmen (demographischer Wandel).
Neuerkrankungen
Nach den Daten des Zentralen Diabetesregisters der ehemaligen DDR, der besten derzeit verfügbaren Quelle, und Beobachtungen aus anderen Ländern gibt es für den juvenilen Typ I des Diabetes einen Inzidenzgipfel im Pubertätsalter, also bei Mädchen zwischen 12 und 13 Jahren und bei Jungen zwischen 13 und 15 Jahren. In den Herbst- und Wintermonaten tritt dieser deutlich häufiger neu auf als im Frühjahr und Sommer. Es gibt große regionale Unterschiede. In verschiedenen Gebieten Deutschlands liegt die Inzidenz für die unter 15jährigen bei jährlich zwischen 6 und 14 neuen Fällen je 100.000. Insgesamt muß man von etwa 15.000 neuen Typ I-Fällen pro Jahr ausgehen.
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Abb. 5.20.2: Neuerkrankungen an Diabetes im Osten 1987 |
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Quelle: Diabetesregister der ehemaligen DDR. |
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Abb. 5.20.2 gibt die geschätzten jährlichen Neuzugänge an Diabetes für die einzelnen Altersgruppen wieder. Die Werte steigen mit dem Lebensalter an. Jenseits des 70. Lebensjahres nimmt diese Rate nach den Daten des Zentralen Diabetesregisters ab. Dies könnte aber daran liegen, daß bei höherem Alter weniger intensiv nach Diabetes gesucht wurde, oder daß Diabetes bei älteren Menschen oft nur als Nebendiagnose geführt und nicht extra registriert wurde. 1987 lag das mittlere Alter bei Diagnose eines Typ-II-Diabetes in der Bevölkerung der ehemaligen DDR bei 60 Jahren für Männer und 66 Jahren für Frauen.
Internationale Vergleiche
In Finnland ist die Inzidenz des Typ-I-Diabetes im Alter bis zu 20 Jahren mit jährlich 30 neuen Fällen je 100.000 Einwohner am höchsten, in Japan mit einem Fall je 100.000 Einwohner am niedrigsten. Deutschland liegt mit jährlich etwa 8 bis 10 neuen Fällen im Mittelfeld. Auch für den Diabetes Typ II sind erhebliche regionale und ethnische Unterschiede festzustellen. In den USA leiden z.B. etwa 38% der erwachsenen Pima-Indianer, aber nur etwa 6% der weißen Bevölkerung an Typ-II-Diabetes. Als Ursachen für regionale und ethnische Unterschiede der Diabetesverbreitung werden genetische Einflüsse, Ernährungsfaktoren und Infektionen diskutiert.
Folgen für Gesundheit, Lebenserwartung und Arbeitsleben
Gesundheitliche Folgen
Noch vor wenigen Jahrzehnten stand die akute
Stoffwechselentgleisung mit überhöhten Blutzuckerwerten (Hyperglykämie), Übersäuerung des
Organismus (diabetische Ketoazidose) und Entgleisung des Mineralstoffwechsels (besonders Kaliummangel) im Vordergrund
der durch Diabetes hervorgerufenen Gesundheitsprobleme. Diese akuten Komplikationen müssen stationär
behandelt werden; sie können unter Eintrübung des Bewußtseins (diabetisches Koma) sogar tödlich
enden.
Eine andere häufig vorkommende akute Störung ist die Unterzuckerung (Hypoglykämie).
Sie entsteht durch eine Überdosierung von Insulin oder durch eine ungenügende Zufuhr von Kohlenhydraten. Die
Unterzuckerung macht sich durch Schwitzen, Unruhe, Zittrigkeit, Sehstörungen, Hungergefühl, Herzklopfen,
Taubheitsempfindungen, Blässe und Wesensveränderungen bemerkbar. In schweren Fällen droht unter
Bewußtseinsverlust und Krämpfen auch hier Lebensgefahr. Akute Stoffwechselentgleisungen dieser Art lassen
sich medizinisch gut beherrschen. Durch qualifizierte Schulung der Diabetiker lassen sich solche Komplikationen
weitgehend vermeiden.
Heute sind die chronischen Gefäß- und Nervenschädigungen in den Vordergrund
gerückt. Sie werden durch langfristig erhöhte Glukosewerte in Blut und Geweben, hohen Blutdruck und durch
krankhafte Veränderungen des Fettstoffwechsels mit erhöhten Blutfettwerten verursacht. Diese kommen
insbesondere bei unbefriedigender Stoffwechselkontrolle und -einstellung, ungesunder Ernährung (zu viel Fett,
Zucker und Energie, zu wenig Faserstoffe) und Bewegungsmangel vor. Beim Diabetes Typ I tritt dann vor allem eine
Schädigung, Verhärtung und Verengung (Sklerose) der kleinen Arterien ein, die als "Mikroangiopathie"
bezeichnet wird. Nach einer Erkrankungsdauer von mehr als acht bis zehn Jahren kann dies durch Schädigung der
Netzhaut zu allmählicher Erblindung (diabetische Retinopathie) oder durch die Schädigung der kleinen
Nierengefäße zu chronischem Nierenversagen führen. Beim Diabetes Typ II steht die Erkrankung der
großen Arterien (Arteriosklerose, "Makroangiopathie") im Vordergrund. In der Folge kommt es zu
Durchblutungsstörungen besonders des Herzens (Herzinfarkt), der Gehirnarterien (Schlaganfall) und der
Gliedmaßen, z.B. "diabetischer Fuß" bei gleichzeitiger Empfindungsstörung (siehe auch Kapitel 5.4
Periphere arterielle Verschlußkrankheit).
Das diabetische Nervenleiden (Neuropathie) betrifft die peripheren Nerven mit Störungen der
Empfindungen und der Bewegungsfähigkeit sowie das sog. autonome
Nervensystem, das vor allem die Funktionen der Bauchorgane
und der Gefäße steuert. Es kommt, je nach Diabetesform und -dauer sowie Qualität der Kontrolle, bei
12 bis 54% der Diabetiker vor.
Tab. 5.20.1 faßt zusammen, wie häufig solche Gesundheitsprobleme bei Diabetikern im
Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung festgestellt wurden. In Deutschland mangelt es auf diesem Gebiet an
repräsentativen Daten. Die Schätzungen werden aber durch kleinräumige Einzelstudien bestätigt.
Diabetes gilt unter unseren Lebensbedingungen als die häufigste Ursache von Erblindung und von
nicht durch Verletzungen bedingten Amputationen. Etwa ein Drittel aller Fälle von chronischem Nierenversagen
(siehe Kapitel 5.23 Chronische Niereninsuffizienz) sind Folge von Diabetes. Bei schlecht eingestellten
Diabetikern wird außerdem eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen beobachtet, besonders
Hauteiterungen, Pilzerkrankungen und Harnwegsinfekte. Auch Gefäß- und Nervenschäden begünstigen
Infektionen.
Tab. 5.20.1: Risikoerhöhung für Folgekrankheiten des Diabetes | |||
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Krankheit | Erkrankungsrisiko für Diabetiker | ||
Erblindung | 10 bis 25 | ||
Durchblutungsstörungen | 15 bis 20 | ||
- des Herzens | 2 bis 6 | ||
- der Gliedmaßen | 20 bis 35 | ||
Schlaganfall | 2 bis 3 | ||
chronisches Nierenversagen | 15 bis 20 | ||
Quelle: Eigene Darstellung. Das durchschnittliche Erkrankungsrisiko in der Bevölkerung beträgt 1. |
Erhebliche Probleme für Mutter und Kind können entstehen, wenn bei einer Schwangeren ein Diabetes nicht erkannt oder bei einer schwangeren Diabetikerin der Stoffwechsel schlecht kontrolliert ist. Häufig treten dann bei den Kindern angeborene Fehlbildungen und ein erhöhtes Geburtsgewicht auf. Eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft und ein Kaiserschnitt können erforderlich werden. In den ersten Lebenstagen leiden die Kinder häufig an Unterzuckerung und Atemstörungen. Die perinatale Sterblichkeit (d.h. Totgeburten und Sterbefälle in den ersten sieben Lebenstagen) bei Kindern von Diabetikerinnen war noch 1994 mit 3,6% mehr als sechsmal so hoch wie im Gesamtdurchschnitt (0,56%).
Auswirkungen auf die Mortalität
In Abhängigkeit vom Alter bei der Diagnose,
Diabetestyp und von der Qualität der Versorgung können Diabetiker eine verkürzte Lebenserwartung
haben. Tab. 5.20.2 faßt Mittelwerte dafür zusammen.
Da die meisten Fälle von Diabetes erst bei älteren Menschen entdeckt werden, liegt
für die Mehrzahl der Diabetiker zwischen Diagnose und Tod ein Zeitraum von weniger als zehn Jahren. Infolge einer
besseren Versorgung hat sich in den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung von Typ-II-Diabetikern zwar günstiger
entwickelt als die der Gesamtbevölkerung, sie ist aber immer noch deutlich niedriger.
Tab. 5.20.2: Verringerung der Lebenserwartung durch Diabetes | |||
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Alter zum Zeitpunkt der Diagnose | in Jahren | ||
20 bis 30 | 15 bis 20 | ||
30 bis 40 | 10 bis 13 | ||
über 65 | 2 bis 5 | ||
Quelle: Schätzungen nach verschiedenen Quellen. |
In der Todesursachenstatistik kommt Diabetes mellitus (ICD 9-Nr. 250) verhältnismäßig selten vor. 1995 lag die standardisierte Sterbeziffer bei 24 je 100.000 Einwohner. Allerdings war in den Leichenschauscheinen bei über 80% der Sterbefälle mit Diabetes dieser nur als Begleitkrankheit eingetragen. In der Statistik erschien als Todesursache die Folgekrankheit, z.B. chronisches Nierenversagen, Schlaganfall oder Herzinfarkt. Deshalb wird Diabetes in seiner Bedeutung als Todesursache erheblich unterschätzt.
Auswirkungen auf das Arbeitsleben
Diabetesbedingte Arbeitsunfähigkeit (AU)
dauerte im Jahr 1993 bei den Pflichtmitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung ohne Rentner im Mittel 33 Tage und
damit überdurchschnittlich lange. 73.772 AU-Fälle (0,2%) wurden mit der Diagnose Diabetes begründet. Das
entspricht einem Verlust von 2,45 Mio. Arbeitstagen (0,5%). Da man aber davon ausgehen muß, daß die AU bei
Diabetikern eher mit den Komplikationen dieser Krankheit begründet wird, z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Nierenkrankheiten oder Infektionen, wird die Bedeutung von Diabetes unterschätzt.
1995 wurden bei Männern 3.724 Frühberentungen mit Diabetes begründet, bei Frauen
1 723. Das sind 2,0 bzw. 1,6% aller Frührenten. Das mittlere Berentungsalter betrug bei Männern 53,7 und bei
Frauen 52,7 Jahre. Es lag damit jeweils etwas über jenem aller 1995 Frühberenteten.
Leistungen
Die Krankenhausdiagnosestatistik für 1995 weist 201.170 stationäre Behandlungsfälle mit insgesamt 3,3 Mio. Behandlungstagen mit Diabetes als Hauptdiagnose aus. Die mittlere Behandlungsdauer betrug 16,6 Tage. Das sind etwa 1,4% der Fälle bzw. 1,8% der Tage aller stationären Behandlungen. Diabetes kann als Nebendiagnose einer seiner Folgekrankheiten geführt werden. Er wird dann statistisch nicht erfaßt.
1995 gingen 13.491 bzw. 1,5% der von der gesetzlichen Rentenversicherung gewährten
stationären medizinischen Heilbehandlungen auf Diabetes zurück, davon 9.031 bei Männern und 4.460 bei
Frauen. Daneben gab es ca. 10.000 medizinische Rehamaßnahmen der GKV wegen Diabetes.
Aufgrund der Diabetesvereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den
Krankenkassen von 1991 finden in Arztpraxen Schulungen für Diabetiker
zur Zuckerbestimmung, Reduktionskost,
Steuerung der Selbstmedikation und Fußpflege statt und werden über die Kassen abgerechnet. Derzeit werden
die meisten Schulungen von stationären Einrichtungen angeboten. Schulungen sollten die typischen
Alltagsaktivitäten der Diabetiker berücksichtigen. Die ambulante Rehabilitation wird deshalb unter Nutzung
der steigenden Zahl regionaler Diabetes-Schulungszentren an Bedeutung gewinnen.
In der ambulanten medizinischen Versorgung spielt der Diabetes eine große Rolle. Unter den 20
häufigsten "gravierenden" und "chronischen" Hauptdiagnosen stand Diabetes in der
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rhebung über die
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ersorgung im
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mbulanten
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ektor (EVaS-Studie) an zweiter Stelle. Diese 1981/1982 ermittelte
Position dürfte auch heute noch gelten.
Einrichtungen und Erwerbstätige
Diabetes wird meist von Internisten,
Allgemeinmedizinern, Kinder- und gelegentlich von Frauenärzten diagnostiziert und behandelt. Eine optimale
Behandlung verlangt vom Mediziner Erfahrung und vom Diabetiker Kompetenz und Disziplin im Umgang mit der eigenen
Krankheit.
Das Konzept der Deutschen Diabetesgesellschaft (DDG) ist es, vor allem Typ-II-Diabetiker i.d.R. vom
Hausarzt versorgen zu lassen. Dabei sollen jedoch ausreichend diabetologisch spezialisierte Fachärzte zur
Verfügung stehen, die den Hausarzt bei seiner Arbeit fachlich unterstützen. Für schwierige Fälle
mit Insulinpflicht, Problemen bei der Stoffwechselkontrolle oder Komplikationen sollen künftig vermehrt
Spezialisten und Diabetes-Schwerpunktpraxen zur Verfügung stehen. Als Vorbild dienen die Schwerpunktpraxen im
Osten, die aus den Diabetes-Dispensaires (Einrichtungen zur Erfassung und regelmäßigen Betreuung aller
Diabetiker in der ehemaligen DDR) hervorgegangen sind. Die stationäre Versorgung soll in internistischen
Abteilungen mit diabetologischer Ausrichtung erfolgen. Für sehr komplexe Anliegen stehen in Deutschland einige
Diabeteskliniken zur Verfügung, die stationäre und teilstationäre Rehabilitation anbieten. Derzeit wird
für die Versorgung von Diabetikern der schon vorhandene Sachverstand zu wenig genutzt, bzw. diese Patienten werden
zu selten an Spezialeinrichtungen weitergeleitet.
Einrichtungen
Für die Schulung von Diabetikern im Umgang
mit ihrer Krankheit wurden Diabetes-Schulungszentren etabliert. Das Verzeichnis der DDG von 1994 enthält 261
solcher Zentren, davon 245 in Kliniken und 16 in Arztpraxen. Auf ein Schulungszentrum kamen 1994 über 15.000
Diabetiker. Diabetiker müssen regelmäßig, d.h. mehrfach geschult werden. Die gegenwärtige Zahl der
Zentren kann somit den Bedarf nicht annähernd decken. Die DDG bemüht sich mit ihrem "Ausschuß Schulung
und Weiterbildung", der Arbeitsgemeinschaft Diabetikerschulung und weiteren Arbeitsgruppen in den letzten Jahren
zunehmend um die Qualitätssicherung in der Diabetikerschulung.
1995 standen in Deutschland für eine stationäre Rehabilitation 17 endokrinologische
Fachabteilungen in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen zur Verfügung.
Erwerbstätige
Die Bezeichnung "Diabetologe" wird von der DDG seit
1995 an Fachärzte vergeben. In einer Übergangsphase haben bisher rund 200 diabetologisch tätige
Ärzte diese Bezeichnung erhalten. Ziel ist es, etwa 2.000 derart spezialisierte Ärzte in Deutschland zu
qualifizieren.
In den 261 Schulungszentren arbeiteten 1994 etwa 1.900 Beschäftigte verschiedener Berufsgruppen
interdisziplinär zusammen. Etwas weniger als die Hälfte davon waren Ärzte, daneben sind vorwiegend
Diabetesschwestern und -pfleger, Diätassistentinnen und speziell ausgebildete Diabetesberaterinnen dort
tätig. Auch Ernährungswissenschaftler, Psychologen, Physiotherapeuten, Sportlehrer, Pädagogen,
Sozialarbeiter, technisches Personal und Diätköche wirken an der Diabetikerschulung mit. Die Zahl der Zentren
und der darin Tätigen hat innerhalb von drei Jahren um etwa 80% zugenommen. Das Angebot kann aber nur einen
Bruchteil des Bedarfs decken. Vor allem fehlt es an ambulanten wohnortnahen Schulungsmöglichkeiten. Auch die
Qualität der Schulung muß an vielen Stellen noch verbessert werden.
Die wohl große Zahl der Ärzte, die in ihren Praxen oder in Kliniken Diabetiker versorgen,
ist derzeit nicht genauer bekannt, ebensowenig, welcher Anteil ihrer Arbeitskraft für die Versorgung der
Diabetiker zur Verfügung steht, wie kompetent sie dafür sind und wie sich dies in den zurückliegenden
Jahren entwickelt hat.
Verbände und Gesellschaften
Die Deutsche Diabetes-Union ist der Dachverband des Deutschen Diabetikerbundes (DDB), der ältesten Selbsthilfevereinigung Deutschlands, des Bundes diabetischer Kinder und Jugendlicher, der DDG, der Vereinigung der deutschen Diabetologen, und darin der Arbeitsgemeinschaft niedergelassener diabetologisch tätiger Ärzte. Seit 1985 arbeitet die von DDB und DDG gemeinsam konstituierte Deutsche Diabetes-Stiftung.
Kosten
Die direkten Kosten, die für durch Diabetes
verursachte Leistungen entstehen, hängen sehr von der Qualität der Stoffwechselkontrolle ab. So wurden 1991
für einen schlecht eingestellten, nicht insulinpflichtigen Diabetiker jährlich 11.000 bis 13.000 DM
geschätzt, während ein gut eingestellter nur etwa 1.000 DM kostete. Die entsprechenden Zahlen für
insulinpflichtige Diabetiker waren bei schlechter Einstellung 13.000 bis 17.000 DM pro Jahr, bei guter Einstellung dagegen
nur 2.400 bis 4.000 DM pro Jahr. Es ist jedoch unbekannt, welcher Anteil der Diabetiker als "gut" bzw. "schlecht"
eingestellt gelten darf.
Die direkten Krankheitskosten von Diabetes werden für 1994 auf etwa 6,1 Mrd. DM geschätzt
(siehe auch Kapitel 8.6
Kosten nach Krankheitsarten,
StBA [1998b]). Der Arzneiverordnungsreport gibt für
1994 allein für Antidiabetika bereits knapp 1,2 Mrd. DM an. Dazu kommen noch in großem Maße weitere
Arzneien, Heil- und Hilfsmittel für Gesundheitsprobleme, die bei bzw. infolge von Diabetes auftreten. Dabei gibt
es auch vermeidbare Kosten, z.B. durch die Verordnung von Medikamenten, deren Wirksamkeit nicht gesichert ist. Bei
Typ-II-Diabetes werden diese auf durchschnittlich 100 bis 400 DM je Fall und Jahr veranschlagt.
Hohe Ausgaben entfallen darüber hinaus auf die kostenträchtigen, schweren Folgekrankheiten
des Diabetes, die in den Abrechnungsstatistiken anderen Diagnosen zugeordnet werden. Allein für diabetesbedingtes
chronisches Nierenversagen müssen jährlich mehr als 1 Mrd. DM veranschlagt werden. In Großbritannien
wurden die durch Diabetes verursachten Kosten Anfang der neunziger Jahre auf etwa 4 bis 5% der Gesamtausgaben für die
gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung geschätzt. Auf Deutschland übertragen ergäben sich
daraus jährlich etwa 13 bis 15 Mrd. DM direkte Kosten, eine Summe, die trotz lückenhafter Daten realistisch
erscheint.
Prävention
Möglicherweise vermindert
ausschließliches Stillen und Verzicht auf Kuhmilch im ersten Lebensjahr das Risiko für einen Diabetes Typ I.
Außerdem versucht man bei Personen, die erstgradige Verwandte mit Typ-I-Diabetes haben, die immunologischen
Prozesse z.B. durch Nicotinamid oder niedrig dosierte Insulingaben aufzuhalten.
Typ-II-Diabetes ist mit Bewegungsmangel und Übergewicht, besonders mit der Vermehrung von
Fettgewebe am Bauch verbunden. Da sich bei übergewichtigen Typ-II-Diabetikern die Stoffwechsellage häufig
durch Gewichtsabnahme normalisieren läßt, liegt es nahe, durch Vermeiden von Übergewicht und
angemessene körperliche Aktivität vorzubeugen. Der Verzicht auf faserarme, zuckerreiche Nahrungsmittel, die
den Blutzucker stark erhöhen, dürfte ebenfalls vorbeugend wirken. Kontrollierte Studien, die die Wirkung
solcher primär-präventiver Maßnahmen nachweisen und quantifizieren, liegen jedoch nicht vor.
Eine große Rolle spielt die Vorbeugung der Folgekrankheiten. Neuere Ergebnisse der Diabetes
Control and Complications Trial Research Group zeigen, daß beim Typ-I-Diabetes durch optimierte
Stoffwechselkontrolle gegenüber einer konventionellen Behandlung das Fortschreiten der diabetischen
Netzhauterkrankung um 80% vermindert werden kann. Unter den gleichen Bedingungen ließ sich die diabetische
Neuropathie um 40 bis 50% senken.
Eine optimale Stoffwechseleinstellung läßt sich durch Blutzuckerselbstkontrolle,
differenziertere Insulindosierung und Insulinpumpen erzielen. So können Spätkomplikationen vermindert und die
Lebenserwartung gesteigert werden. Beinamputationen lassen sich oft durch frühe differenzierte Behandlung von
Geschwüren und anderen diabetesbedingten Fußproblemen vermeiden.
Ziele
Diabetes gilt nicht als ein unbeeinflußbares, schicksalhaftes Leiden. Überernährung, Bewegungsmangel und möglicherweise frühe Kuhmilchernährung im Säuglingsalter begünstigen die Entstehung von Diabetes. Erwiesen ist auch, daß die Folgekrankheiten des Diabetes in hohem Grade vermeidbar sind. Deutschland hat sich deshalb den Zielen der St. Vincent-Deklaration der WHO, der International Diabetes Federation von 1989 und den Erklärungen der Folgekonferenzen angeschlossen. Danach sollen u.a. die folgenden Ziele erreicht werden:
- Verminderung neuer Fälle von durch Diabetes bedingtem chronischen Nierenversagen um mehr als ein Drittel.
- Beseitigung der erhöhten Morbidität und Mortalität diabetesbedingter Krankheiten der Herzkranzgefäße durch Programme zur Risikofaktorenverminderung.
- Erreichen eines Schwangerschaftsergebnisses bei Diabetikerinnen, das sich dem nicht-diabetischer Frauen annähert.
- Verminderung neuer Fälle von Erblindung durch Diabetes um mindestens ein Drittel.
- Verminderung von durch Diabetes bedingten Gliedmaßenamputationen auf die Hälfte.
Um diese Ziele zu erreichen, sollen die Früherkennung, die Qualität der Versorgung Diabeteskranker bei Hausärzten, die rechtzeitige Weiterleitung besonders der Typ-I-Diabetiker in Spezialeinrichtungen und die Schulung von Diabetikern und ihrer Familien im Umgang mit der Krankheit verbessert werden.
In Deutschland wurden im Zusammenhang mit der St. Vincent-Deklaration insgesamt etwa 100 Projekte
auf den Weg gebracht. Die Krankenkassen engagieren sich zunehmend für die Schulung der bei ihnen versicherten
Diabetiker und übernehmen die Kosten dafür. Die Zahl der Schulungszentren steigt. Die Qualitätskontrolle
der Versorgung und Schulung wird zunehmend beachtet.
Es ist deshalb in den kommenden Jahren mit einer Verbesserung der Stoffwechselkontrolle bei
Diabetikern, mit einem Rückgang der diabetischen Komplikationen und Folgekrankheiten und damit der Fallkosten zu
rechnen. Eine Verbesserung der Datenlage zur Beobachtung und Beurteilung dieser Entwicklungen ist erforderlich.
Vertiefende Literatur
Bellach, B.M. (Hrsg.) [1996]: Die Gesundheit der Deutschen . Bd. 2. Berlin: RKI (RKI-Heft 15/96).
Berger, M. [1994]: Diabetes mellitus . München: Urban und Schwarzenberg.
Bergmann, K.E.; Baier, W.; Meinlschmidt, G. (Hrsg.) [1996]: Gesundheitsziele für Berlin: Wissenschaftliche Grundlagen und epidemiologisch begründete Vorschläge . Berlin: de Gruyter.
Diabetes Control and Complications Trial Research Group [1996]: Lifetime Benefits and Costs of Intensive Therapy as Practised in the Diabetes Control and Complications Trial. In: Journal of the American Medical Association 276, S. 1.409 bis 1.415.
Trautner, C.; Haastert, B.; Giani, G.; Berger, M. [1996]: Incidence of Lower Limb Amputations and Diabetes. In: Diabetes Care 19 (9), S. 1.006 bis 1.009.
Ziegler, D.; Gries, F.A. [1996]: Diabetische Neuropathie: Klassifikation, Epidemiologie, Prognose und sozialmedizinische Bedeutung. In: Deutsches Ärzteblatt 93, S. C481 bis C483.
Kapitel 5.20 Diabetes mellitus [Gesundheitsbericht für Deutschland 1998]
1) Weitere Informationen zu diesem Thema aus | - Gesundheit in Deutschland 2006 |
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- Themenheft 24 - Diabetes mellitus (2005) |
[Pneumonie, Kapitel 5.19] [Karies und Parodontopathien, Kapitel 5.21] [Abstrakt] [Inhaltsverzeichnis] [Literaturverzeichnis]
Gesundheitsberichterstattung des Bundes 05.02.2023